Für die meisten Chemnitzer endet die Stadt wohl am Chemnitz-Center, nach eigener Aussage Sachsens größte Einkaufsstraße, direkt am Kreuz der Autobahnen A72 und A4. Dahinter folgt - entlang der Bundesstraße 95 - Röhrsdorf, die Terra Incognita.
Da wollten die Gemeinderäte besonders clever sein: Bereits 1990 wies, die damals noch eigenständige Gemeinde, Röhrsdorf direkt vor den Toren von Chemnitz ein riesiges Gewerbegebiet aus. Mit günstigen Steuern konnte man ab 1992 nicht nur Sachsens größte Einkaufsstraße auf der grünen Wiese ansiedeln, sondern auch jede Menge kleinerer Gewerbebetriebe aus der Stadt aufs hügelige Umland locken.
Doch hatte man die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Auf die plötzlich nach Röhrsdorf einsprudelnden Steuereinnahmen und die aus dem Zentrum abfließende Kaufkraft konnte Chemnitz auf Dauer nicht verzichten und so wurde Röhrsdorf im Jahr 1999 als drittgrößter Stadtteil eingemeindet.
Hang zum Mini-Protest
Seitdem fühlt sich der Röhrsdorfer von den Großstädtern unterdrückt und klein gehalten. Nicht nur weil der örtliche Busbetrieb im April 2008 einen von vier Haltepunkten strich. Dennoch ist der Stadtteil und insbesondere das Gewerbegebiet nach wie vor gut erreichbar. Auch als die Röhrsdorfer Schule zur Grundschule degradiert werden sollte, gab es Proteste. Jetzt hat man zumindest eine mittelschulische Außenstelle, die sich zunehmender Beliebtheit erfreut - der Kampf hat sich gelohnt.
Auch sonst hat sich in Röhrsdorf viel vom einstigen Gemeindeleben erhalten: Es gibt ein florierendes Vereinswesen u.a. mit Ziegenzuchtverein, Schützengesellschaft und Motorsport-Club und ganz für sich feiert der Stadtteil jedes Jahr sein Schul- und Heimatfest. Und weil man in solchem Umfeld noch auf Moral und Anstand bedacht ist, sind zirka 75 Prozent der Röhrsdorfer verheiratete Erwachsene.
Wohnen hinterm Gartenzaun
Architektonisch dominieren die Einfamilienhäuser, mehr als 55 Prozent des Gebäudebestands sehen so aus. Überhaupt findet sich in ganz Röhrsdorf laut Statistik kein einziges Haus mit mehr als drei Wohneinheiten - ein Umstand, den es so sonst nur noch im benachbarten Stadtteil Wittgensdorf gibt. Man mag es kleinteilig und familiär und jährlich verstärkt sich dieser Zustand durch ein halbes Dutzend neue Eigenheime.
Der Gebäudezustand ist überwiegend gut, was sich mit einer Besonderheit der Röhrsdorfer Gemeindepolitik direkt nach der Wende erklären lässt: Ohne lange Überlegungen wurden zum Schnäppchenpreis kommunale Gebäude privatisiert - allerdings mit strengen Auflagen zum Weiterverkauf. So konnte hier wesentlich schneller restauriert werden, als es sich klamme Kommunen im Regelfall leisten können.
Röhrsdorf lohnt sich - im Gewerbegebiet gibt es Arbeit und umfassende Freizeitangebote, die über das Shopping hinausgehen. Ein bisschen Integrationswillen sollte man aber mitbringen - Freude am Vereinsleben und ein leichter Hang zur Selbständigkeit werden in Röhrsdorf groß geschrieben.
Volker Tzschucke
Dieser Insider-Tipp spiegelt nur die Meinung des Autors wider.